Neue Horizonte für die Identität von Orten: die Entstehung des Metaplace

In zunehmend gesichtslos gestalteten Städten wird das Rufen nach Standortidentität immer lauter, denn es mangelt an Geschichten, Beziehungen und an Dynamik. Aber auch eine neue Realität wird erkennbar: die Symbiose aus physischem und virtuellem Raum, die wir als neuen Ort begreifen müssen. Als attraktiven Zukunftsort.

1. Sehnsuchtsorte
Orte haben sich der Globalisierung angeglichen und die ganze Welt wirkt zumindest im Digitalen inzwischen wie eine einzige Stadt. Lokales steht der großmaßstäblichen, vernetzten Welt gegenüber, Traditionen und Bewährtes werden im Städtebau vielerorts neu mit einer globalen Sehnsucht nach Gemütlichkeit namens „Hygge“ (dänisch für: herzliche, gemütliche Atmosphäre), interpretiert und alles soll möglichst kleinteilig bleiben, denn die „gute alte Zeit“ ist und bleibt irgendwie regional. Unsere Realität, unsere Probleme und Transformationen sind jedoch allumfassend und von globaler Natur. Wie soll in diesem Widerspruch Stadtentwicklung betrieben werden und eine Stadtgesellschaft die Herausforderungen meistern? Wir Placemaker kommen vermehrt ins Spiel, die Ansprache nach dem Bedarf an guten, lebenswerten Orten wird stärker, die Diskussionen landen jedoch schnell in einem oberflächlichen Verständnis von Identität als einer maßgeblichen Größe aus Stein und Stahl – oder um es klimafreundlicher auszudrücken: aus Holz und Grün. Mit dem Spaten in der Hand wollen wir in Urban Gardening-Projekten die Welt und unsere Planer-Seele retten. Gedanklich haben wir das Handbuch für zukunftsfähige Orte fertig im Kopf, aber was wir dabei verkennen: Die Nutzung unserer Städte hat sich ziemlich verändert und die Stadt im Netz ist keine Prognose mehr, sondern bereits unausweichliche Realität.

Welche Eigenschaften prägen demzufolge die Identität eines Standortes in der Jetzt-Situation? Bis in die jüngste Gegenwart erfuhren wir Orte noch maßgeblich durch archetypische Raumfiguren und lokale Bedeutungen am konkreten Raum. Aus dem Ortscharakter konnte die Erzählung des Lokalen verstanden werden. Lage, Materialität, Maßstab, Blickachsen und geometrische Anordnung prägten seine Identität.

 


Im Rahmen der Entwicklung des ca. 60 Hektar großen, neu entstehenden gemischten Quartiers „Das Neue Gartenfeld“ in Berlin-Spandau galt es, die Erschließung und Aktivierung der zahlreichen Erdgeschoss- und Gewerbeflächen systematisch zu lösen und einen Masterplan zu entwerfen – unter Berücksichtigung der hohen baulichen Dichte, hybrider Architekturen (Bestand/Neubau), heterogener Nutzungsstrukturen und des besonderen hiesigen Landschaftsraums.

 

2. Neue Realität
Der Jetzt-Zustand ist weitaus komplexer und verwirrender: Oft völlig losgelöst vom physischen Raum werden Standorte mittlerweile von Erzählungen, Informationen und vor allem starken Bildern geprägt. Untrennbar sind Virtuelles und Physisches mit unserer Wahrnehmung und Nutzung von Stadt verbunden. Wir navigieren mit unseren Smartphones durch Urbanität und Landschaft, finden ständig neue Verknüpfungen, Orte werden instagrammable oder auch smart – somit wird die Identität von Orten nicht mehr nur von lokalen Kriterien gebildet, sondern auch im Netz aufgeladen. Viele Orte besuchen wir bereits digital, bevor wir sie konkret erfahren oder nachempfinden können und oftmals entsteht verfrüht das Gefühl des Kennens, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. Die technologische Verknüpfung und digitale Steuerung im Raum verändern unsere Logistik, Mobilität und das Leben und Arbeiten in der Stadt. Für gelungenes Placemaking bedeutet das konkret, zukunftsfähige Ideen für die Identität von Orten zu denken. Als menschzentrierte Planungsmethode entwerfen wir Orte allerdings nicht ohne deren Bewohner und stellen uns zentrale Fragen wie: Welche Bedeutung weisen Menschen einzeln und kollektiv Orten zu? Wie werden sie genutzt? Welche Wünsche und Träume verbinden sie mit ihnen? Und welche Eigenschaften zeichnen gute Orte aus? Ganz eindeutig dürften die Antworten inzwischen nicht mehr ausfallen, denn das Mensch-Ort-Verhältnis zeigt sich vielschichtig und im rasanten Umbruch. Schien unsere Welt zuvor verständlicher, verorteter und organisierter, beeinträchtigen Faktoren wie Digitalität, Klima und soziales Leben heutzutage die Verlässlichkeit, Bedeutung und Identität von Orten. Handel und Arbeiten wird zunehmend fluide und multistationär. Keine feste Adresse? Auch kein Problem.

 


Der ehemalige Flughafen Tegel macht Platz für Berlin. Auf dem 500 ha großen Areal entstehen ein Forschungs- und Industriepark für urbane Technologien: Berlin TXL – The Urban Tech Republic und ein neues Wohnviertel: das Schumacher Quartier; zudem ein Landschaftsraum, der von Grün Berlin entwickelt wird. In der Urban Tech Republic werden bis zu 1.000 große und kleinere Unternehmen mit 20.000 Beschäftigten forschen, entwickeln und produzieren.

 

3. Das Narrativ
In der Realität dieser neuen Ordnung braucht es ein neues Verständnis für diese zeitgemäße Realität: den Metaplace. Er ist die unmittelbare Verlängerung der realen Orte in die digitalen Ebenen der virtuellen Welt, macht jedoch aus Digitalem wieder etwas Physisches, sobald wir in Videokonferenzen miteinander interagieren oder smarte Infrastrukturen unsere Städte und Gebäude steuern. Und nein, der Metaplace ist keine trendige Start-up-Erfindung, sondern der von uns gelebte Alltag. Mal ehrlich, wer legt noch das Smartphone aus der Hand, während er sich im physischen, echten Leben bewegt? So gut wie niemand. Einer von vielen Gründen, weshalb sich Standortidentität deshalb nicht mehr rein räumlich definieren lässt. Das Virtuelle produziert inzwischen zu viele Bilder und kulturelle Stereotypen, als dass wir Orte noch “völlig clean“ erfahren könnten. Kurz gesagt: es schafft typologische Sehnsuchtsorte, die nicht zuletzt auch als Material für eine globale Aufmerksamkeitsökonomie dienen.

Das im Metaplace entstandene, mulimedial geprägte und virtuelle Gesicht eines Ortes kann nun bewusst beeinflusst werden – und zwar so, dass es unser Handeln an einem Ort verändert. Leitbilder sind dazu ein altbewährtes Mittel, das großes Sehnsuchtspotential birgt. Die europäische Stadt etwa proklamiert die gemischte integrierte Stadt mit starker historischer Identität und kulturellem Erbe. Die Pariser 15-Minuten Stadt hingegen lässt von intakten Strukturen und dörflichem Charme in der Millionenstadt träumen. Die autogerechte Stadt der Nachkriegsmoderne positioniert die Funktion als Heilsbringer: Geschwindigkeit als Lebensgefühl und Wohlstand für alle.

Strategische Narrative greifen den Ansatz von attraktiven Leitbildern auf und setzen sie in Kommunikationskanälen ein, in denen sie einen Bogen zu den großen Erzählungen der Gesellschaft schlagen, wie zum Beispiel: Der Klimaschutz, das lebenslange Lernen oder die autofreie Stadt. Gute und nachvollziehbare Erzählungen verankern Projekte in der Identität einer Stadtgesellschaft und bestenfalls an einem Ort. Eine große Portion Sehnsucht nach besseren Orten ist für Placemaker das geeignete, strategische Narrativ, um Standortidentitäten zu fördern. Sie sind die kommunikativen Setzungen, die wir brauchen, um Orte dementsprechend zu entwickeln, Stadt neu zu denken, aber auch, um Tradiertes zu bewahren – von der Vergangenheit in die (digitale) Zukunft weisend. Kurz: Wir brauchen eine größere Sehnsucht nach Zukunft, denn nur auf diese Weise lässt sich der physisch-virtuelle Raum – der Metaplace – gestalten.

 


Der erste IoT Campus von Bosch wurde als kollaborationsfördernde Arbeitsumgebung für den internationalen Tech-Nachwuchs gestaltet. Seit seiner Eröffnung Anfang 2018 hat sich dieser Standort zum größten Innovationsort des Konzerns und das Ullsteinhaus zum wichtigen Treffpunkt der IoT-Welt entwickelt.

 

4. Auf die Perspektive kommt es an
Der Diskurs über heutige Standortanforderungen mündet hierzulande meist in einer ermüdenden Problemorientierung und in einem minimalen Kompromiss.

Gutes Placemaking schaut – neben Umgebung, Bewohnern und Besuchern– auch auf seine Stakeholder, um zu erkennen, was ihnen nützt und welche Interessen sie verfolgen. Auffällig ist, dass es in konkreten Projekten bei der Frage nach Identität unterschiedlichste Perspektiven gibt: Ist es für die einen das soziale Milieu, was die lokale Identität ausmacht, steckt eben diese für den anderen in der wirtschaftlich zu aktivierenden Altbausubstanz. Investoren, Politik und Verwaltung stehen sich hier konträr gegenüber, auch Anwohnerschaft verfolgt gänzlich andere Interessen, so dass wir oftmals nach baurechtlicher Vorschrift in die Partizipation gehen und nur zu einer Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gelangen oder langwierige Problemverhandlungen daraus resultieren. Um ein gemeinsames Wollen für eine menschen- und nutzerzentrierte Stadt herauszuarbeiten, die ökologische, ökonomische und soziale Voraussetzungen erfüllt, müssen diese Prozesse geöffnet werden.

Auch das Standortmarketing hat bereits erkannt, wie gut sich die Sehnsucht nach attraktiven und lebenswerten Orten medial beeinflussen lässt. Ein kommunikatives Rahmenwerk für eine Stadt wie „Arm aber sexy“ kann die Identität und Identifikation aber auch den Wunsch nach Zugehörigkeit und Teilhabe massiv beeinflussen. Marketing schafft allerdings auch maximal skalierbare Märkte, die zu einer globalen Angleichung von Sehnsüchten führen – unserer eigenen und denen der Stakeholder. Das sorgt nicht automatisch für eine gute Standortidentität. Wir kommen nicht umhin, dieses zweischneidige Schwert zu nutzen.

Im Verständnis des Metaplace reicht es nicht mehr aus, nur Plätze, Architektur und Raumstrukturen für den Einzelhandel und die Revitalisierung unserer Innenstädte, das Arbeiten der Zukunft oder die Mobilitätswende zu gestalten. Die Stakeholder müssen die Symbiose aus Virtualität und Realität mit einbeziehen und sich eingestehen, wie stark wir digitale Räume und smarte Vernetzungen inzwischen gleichermaßen ausgestalten wie unsere unmittelbare Umwelt. Materialität und Haptik bekommen eine weitere Dimension des Digitalen und Virtuellen, die die Identität, Wünsche und urbanen Nutzungen der städtischen Akteure prägen.

Die Idee des Metaplace zu nutzen, eine Sehnsucht nach einer klimagerechten und sozialen Identität und Nutzung von Stadt zu erzeugen, um die erforderliche Transformation dann zu gestalten, ist das Gebot der Stunde.

Dieser Artikel erschien im polis Magazin Ausgabe 02/2022 Sehnsüchte.

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