Arbeiten umdenken – Nachbarschaften sind die neuen Büros

Die künftige Gestaltung von Büroräumen wird momentan abrupt in Frage gestellt. Wir können von überall arbeiten. Dennoch: Arbeitswelten brauchen physischen Raum und Interaktion. Und mitten in diesem disruptiven Moment stellt sich die folgende Frage: Warum arbeiten wir eigentlich noch, wie wir arbeiten?

Das größte Home-Office-Experiment der Welt hat erstmals deutlich werden lassen, dass für viele Menschen kein absoluter Zwang mehr besteht, ins Büro zu gehen. Die Pandemie hat die Routine des Bürolebens unterbrochen und damit einhergehend tun sich Möglichkeiten auf, die Bedeutung und den Ort des Arbeitsplatzes generell neu zu definieren. Im Zuge dessen verändern viele Unternehmen ihre Richtlinien für die Arbeit von zu Hause; somit ist jetzt der optimale Zeitpunkt für die Planung einer Strategie, in der die konventionellen Ansichten über Bürogebäude als zentraler Arbeitsplatz überprüft werden. Unter den neuen Rahmenbedingungen scheint das Bild des Büros mit festen Einzelarbeitsplätzen als ausgedientes Modell aus Zeiten der Industrialisierung zu stammen, denn die technologischen Grundlagen sind seit langem vorhanden, um mit der fortschreitenden Digitalisierung eine vernetzte und multilokale Arbeitswelt zu kreieren. Die Kommunikationstechnologie verändert unsere Erfahrung und Nutzung von Stadt nun rasant und in kürzester Zeit erfuhr die Verwendung längst vorhandener Tools eine enorme Beschleunigung, so dass wir jetzt vor der Frage stehen: Wie können Arbeitsplatz und Arbeitsrhythmus zukünftig aussehen?


© Projekt KALLE Neukölln / Maruhn Real Estate Investment GmbH

Um darauf eine Antwort finden zu können, müssen der Mensch als Individuum und seine Beziehungen zu anderen im Zentrum der Überlegungen stehen. Denn im Vergleich zur Technologie besitzt er durch seine emotionale Intelligenz noch immer einen Vorsprung, den es weiterhin zu bewahren, zu schärfen und zu fördern gilt. Diesen Fähigkeiten sollten Räume geschaffen werden, in denen Identifikation und Produktivität ermöglicht wird. Flexibilität und Mobilität stehen als zentraler Faktor für viele Unternehmen bereits im Vordergrund, aber es bedarf weiterer Überlegungen und Betrachtungen darüber, wie wichtig auch der physische Raum noch im Wandel der Zeiten für Arbeitnehmer*innen ist. Besonders innerhalb der jüngeren Zielgruppen besteht vermehrt der Wunsch, klassische Arbeitssituationen und -rhythmen neu zu definieren. Welche Qualitäten und Möglichkeiten braucht es, um Mitarbeiter*innen zukünftig in ihren Wünschen zu unterstützen und gleichzeitig durch physische Räume zur Verbesserung der städtischen Landschaft und der lokalen Gemeinschaften beizutragen?

Befassten wir uns in den letzten Jahren weitestgehend mit dem Thema der Büroatmosphäre – sprich: der Optimierung des fest verorteten, geschlossenen Raumes – stehen wir heute vor der Aufgabe einer physischen Erweiterung. Human, menschzentriert, gestaltete Räumlichkeiten sollten zu einer Kultur der Kooperation und des Wissensaustausches beitragen. Zusätzliche Annehmlichkeiten, wie die der Versorgung, Ausgleichsflächen zur Erholung und gutes Raumklima trugen zum Gefühl der Vitalität und des Wohlbefindens bei. Dieser physische Raum und seine Ortsgebundenheit werden nun durch neue Kommunikations- und Kollaborationstechnologien so gut wie gänzlich in Frage gestellt. Es geht nicht mehr vordergründig nur um eine arbeitnehmer*innenfreundliche Atmosphäre, sondern um Flexibilität und wieder vermehrt um die Beziehung von Menschen zueinander. Auch Softwareentwickler*innen reagieren auf diese Entwicklung zwischen Mensch und Ort und Mensch und Maschine. Die Vielzahl der Möglichkeiten und Wege, miteinander virtuell zu kommunizieren, übernimmt die Diskussion darüber, welche Funktionen die altbekannten Arbeitsräume also zukünftig haben werden.

Der Vorteil, von überall aus arbeiten zu können, ist dank der Digitalisierung zu einem Arbeitsmodell vieler Menschen geworden. Viele Bereiche des täglichen Lebens und der Unterhaltung sind jederzeit im Netz verfügbar und das städtische (Büro-)Leben rückt in weite Ferne. Die Stadtlandschaft und ebenso der Büroraum müssen aufgrund dieses zunehmend beliebter gewordenen multilokalen Arbeitsmodells grundsätzlich umstrukturiert werden und sich durch soziokulturelle Angebote, die draußen auf dem Land nicht unmittelbar zu finden sind, wieder attraktiver und nutzer*innenfreundlicher zeigen. Wenn die Stadt das den Arbeitnehmer*innen allerdings nicht mehr bietet, warum sollten diese sich dann immer noch ins Büro bewegen?

Nicht ganz außer Acht lassen sollte man bei dieser Überlegung jedoch, dass der Mensch schlussendlich ein raumgebundenes und soziales Wesen ist. Die Frage müsste folglich etwas radikaler lauten: Sollte das Büro noch Büro sein? Aus persönlicher Sicht bremst der klassische Schreibtisch meine Inspiration und soziale Interaktion, aber wir Menschen brauchen immer auch Orte, an denen wir zusammenkommen, um uns zu verbinden, Beziehungen aufzubauen und unsere Karriere entwickeln zu können. So sehr wir private Orte brauchen, an die wir gehen können, um uns zurückzuziehen, brauchen wir auch öffentliche Orte, um uns zusammenzubringen. Büros sind also aus diversen Gründen von Bedeutung: Sowohl Menschen als auch Organisationen verwenden sie, um ihre Arbeitseinstellung, ihre Werte und Wünsche auszudrücken. Physische Orte helfen uns, unsere berufliche Identität auszudrücken, das schafft die allgegenwärtige virtuelle Arbeit vorerst noch nicht, und wenn wir einen dieser Faktoren in Zukunft ändern oder anpassen möchten, wird dies ohne ein gewisses Maß an physischer Präsenz schwierig.

Somit stehen sich zwei Pole gegenüber. Zum einen das Modell Home-Office mit seinen Möglichkeiten, Familie und Freizeit leichter zu verbinden, zum anderen das Modell Stadtbüro mit seiner attraktiven Urbanität während und nach der Arbeitszeit. Eine Annäherung der beiden Pole könnte dadurch entstehen, das klassische Bürodenken aufzulösen. Eine Stadttypologie, die auf die Monokultur reiner Bürodistrikte setzt, stellt sich für Arbeitnehmer*innen und ihre Bedürfnisse kaum noch als attraktives Modell dar – Bürodistrikte haben sich zum Auslaufmodell entwickelt.


© Projekt SHED / Klingsöhr Projektentwicklung GmbH

Was es braucht? Mehr Dehnbarkeit, was die Unternehmensgrenzen betrifft: Mitarbeiter*innen könnten ihrer Tätigkeit auch in einem Nachbarschafts-Co-Working nachgehen. Das stärkt die lokale Gemeinschaft, gibt neue Impulse und man lernt vom Nachbar*innen im besten Falle mehr als von Kolleg*innen. Denn gerade Beziehungen, die nicht in erster Linie zur Arbeit direkt gehören, stärken unsere Inspiration und Freude an ihr. Darüber hinaus sollten sich Büros mehr als Partizipanten im urbanen Kontext verstehen und vermehrt Präsenz in den Erdgeschossen verschiedener Wohnquartiere zeigen. Aus reinen Schlafstädten würden öffentlich zugängliche und flexible Räume unweit des eigenen Lebensmittelpunktes, die das Arbeiten weniger isoliert gestalten. Für Unternehmen, die dies als Teil ihrer Strategie betrachten möchten, ist vorstellbar, dass der Arbeitsplatz zukünftig als Mischung aus traditionellem Büro und Heimarbeit fungiert.

Durch integrierte Arbeit in urbanen Quartieren sollten die klassischen kulturellen, sozialen und freizeitorientierten Angebote der Stadt genutzt und auch gefördert werden, daraus entstünden fließendere Arbeitszeiten, die sich je nach persönlichem Bedürfnis und Arbeitsrhythmus gestalten ließen. Damit einhergehend erhöhte sich die Attraktivität bestimmter Stadtteile für Unternehmen, die dort ergänzende Dienstleistungen anbieten. Ein Beispiel für diesen neuen Typus des Arbeitens ist das im Entstehen begriffene KALLE Neukölln: Verschiedenste Sektoren wie Büroräume, Foodmarket, Co-Creation und Aktivitäten unter einem Dach mit direktem Bezug zur angrenzenden Nachbarschaft.

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© Projekt KALLE Neukölln / Maruhn Real Estate Investment GmbH

 

Wenn wir unsere Arbeitsbeziehungen aufrechterhalten und unser Bestes geben möchten, gilt es die Größe, Platzierung und Struktur unserer Büros zu überdenken. Die Umwandlung von Erdgeschossen und nicht mehr existierenden Einzelhandelsflächen kann dazu beitragen, die teils verwaisten Geschäftsviertel in größeren Städten wieder zu beleben, um weiter eine Anziehungskraft zu gewährleisten. Die Erfahrung, von zu Hause aus zu arbeiten, hat uns mit den Werkzeugen ausgestattet, die nun erforderlich sind, die positiven Veränderungen in unseren Städten, Gemeinden und im Berufsleben bewirken zu können. Stadt kann wieder komplexer, durchmischter und spannender werden – wir freuen uns auf diesen Wandel.

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